Interview mit Prof. Dr. Gisela Jakob
Menschen, die sich freiwillig engagieren, sollten grundsätzlich kein Entgelt für ihre Tätigkeit erhalten, meint Prof. Dr. Gisela Jakob, Erziehungswissenschaftlerin an der Universität Darmstadt. Die Gefahr sei groß, dass die Grenzen zur Erwerbsarbeit verwischen.
Ist es für Sie eine Ehre, als Professorin an eine Universität berufen worden zu sein?
Ehre ist nicht das, woran ich in diesem Zusammenhang als Erstes denke. Ehre ist überhaupt ein sehr traditioneller Begriff, der heute meist ersetzt wird durch den Begriff der Anerkennung. Ich habe mich beruflich und wissenschaftlich über Jahre für meine derzeitige Tätigkeit qualifiziert, die mir Spaß macht und die ich verantwortungsvoll ausführe. Im Unterschied zu einer ehrenamtlichen Tätigkeit erziele ich mit meinem Beruf mein Einkommen und bestreite damit meinen Lebensunterhalt.
Was genau verstehen Sie unter einem Ehrenamt?
Statt Ehrenamt – der Begriff stammt aus der preußischen Städteverordnung – würde ich lieber von „ehrenamtlichem“, freiwilligem“ oder „bürgerschaftlichem“ Engagement sprechen. Damit sind alle Tätigkeiten gemeint, die von Bürgerinnen und Bürgern freiwillig und unentgeltlich ausgeübt werden, die auf das Gemeinwohl zielen und im öffentlichen Raum stattfinden – im Unterschied zu dem, was in nachbarschaftlichen oder verwandtschaftlichen Netzwerken geschieht. Das Engagement vollzieht sich zudem in einem organisatorischen Rahmen beispielsweise von Vereinen, Verbänden oder auch Kirchengemeinden. Diese inhaltliche Bestimmung geht auf die Arbeit der Enquete-Kommission „Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements“ zurück, und an ihr orientiert sich die Fachdebatte seither.
In den vergangenen Jahren haben Wissenschaftler einen Trend zur Monetarisierung im bürgerschaftlichen Engagement festgestellt: Zwischen 1999 und 2009 ist der Anteil derjenigen, die dafür Geld oder geldwerte Leistungen erhalten, von 18 auf 23 Prozent gestiegen. Welche Bereiche des bürgerschaftlichen Engagements sind betroffen?
Zur Einordnung ist zunächst wichtig, dass sich nach wie vor drei Viertel der freiwillig Tätigen unentgeltlich engagieren. Einen Trend zur Monetarisierung sehen wir aber in bestimmten Bereichen, etwa in der Pflege und der Begleitung von Demenzkranken. Oder auch in Ganztagsschulen, wo der Bedarf für die Nachmittagsbetreuung groß ist und Schulen häufig mit Sportvereinen oder Vereinen der Jugendhilfe zusammenarbeiten, die zum Teil Entgelte für freiwillig Engagierte zahlen.
Welche Modelle haben sich etabliert?
Teilweise werden Stundensätze gezahlt, mal fünf Euro, zwölf Euro oder noch mehr. Daneben gibt es Modelle des bezahlten Engagements über eine pauschale Aufwandsentschädigung. Hier würde ich von einer Monetarisierung sprechen, wenn die Pauschalen deutlich über den entstandenen Auslagen liegen. Wenn also 300 Euro gezahlt werden, obwohl die Auslagen nur bei 100 Euro lagen, jemand über die Pauschale also ein verstecktes Entgelt erhält. In anderen Modellen wird ein Minijob mit einer Übungsleiterpauschale aufgestockt. Für seine berufliche Tätigkeit bekommt jemand monatlich also 450 Euro und zusätzlich – sagen wir – 200 Euro über die Übungsleiterpauschale, wodurch die jeweilige Organisation zugleichSozialversicherungsbeiträge spart.
Sind Menschen nur noch über finanzielle Anreize für ein Engagement zu gewinnen?
Ökonomische Logiken und marktwirtschaftliche Orientierungen sind mittlerweile in alle Lebensbereiche eingedrungen und beeinflussen auch die Haltungen der Menschen. Für einige mögen finanzielle Anreize eine Rolle spielen, um sich zu engagieren. Für Menschen mit niedrigen Einkommen kann ein zusätzliches Entgelt für die ehrenamtliche Tätigkeit wichtig sein, um damit das Einkommen etwas aufzubessern. Für den weitaus größten Teil der freiwillig Engagierten gilt aber sicherlich, dass sie ihre Motivation nicht über Entgelte definieren. Dies zeigt einmal mehr auch das aktuelle Engagement vieler für geflüchtete Menschen. Die Bürgerinnen und Bürger engagieren sich, weil sie dazu beitragen wollen, die aktuellen Probleme zu bewältigen und vielleicht auch, weil sie mit ihrem Engagement ein Zeichen setzen wollen gegen fremdenfeindliche Äußerungen und Aktivitäten. Neben diesen gemeinwohlbezogenen Haltungen spielt auch die eigene Lebensgeschichte und Biografie eine Rolle, ob und wie sich Menschen engagieren.
Inwiefern?
Das Engagement knüpft häufig an eigene biografische Erfahrungen an und ist von dem Wunsch getragen, damit Lebenssinn zu stiften. Dies ist für die meisten Engagierten wichtiger als ein Entgelt. Ich habe viele Interviews mit freiwillig Engagierten geführt; ein Telefonseelsorger sagte mir einmal, er wolle auf keinen Fall Geld für seine Tätigkeit erhalten, weil er sonst seine Unabhängigkeit verlieren würde und nicht mehr frei heraus Kritik üben könne. Auch der „Freiwilligensurvey“ (2014), eine repräsentative Befragung zum freiwilligen Engagement in Deutschland, hat ergeben, dass sich der überwiegende Teil der Menschen engagiert, um etwas Sinnvolles zu tun und die Gesellschaft im Kleinen mitzugestalten. Natürlich ist das Engagement nicht selbstlos, aber dieser Blick auf den eigenen Vorteil ist meist dadurch gekennzeichnet, in Kontakt mit anderen zu treten, Sinnstiftendes zu tun oder an Entscheidungen mitwirken zu können.
„Das Engagement knüpft häufig an eigene biografische Erfahrungen an und ist von dem Wunsch getragen, damit Lebenssinn zu stiften. Dies ist für die meisten Engagierten wichtiger als ein Entgelt.“
Zurück zu denjenigen, die darauf angewiesen sind, ihr Einkommen aufzubessern. Welche Risiken und Nebenwirkungen gehen in dieser Hinsicht vom bezahlten Engagement aus?
Wenn jemand sein niedriges Einkommen über ein bezahltes Engagement aufbessert, kann ich das aus seiner Perspektive sehr gut nachvollziehen. Betrachtet man es aber strukturell, ist es problematisch: Viele dieser Menschen suchen in erster Linie einen Erwerbsarbeitsplatz, der ihr Einkommen sichert. Weil sie den nicht finden, weichen sie auf ein bezahltes, vermeintlich ehrenamtliches Engagement aus. Die Herausforderung, aus der Arbeitslosigkeit heraus einen Erwerbsarbeitsplatz zu finden, ist damit nicht gelöst. Das ist eine politische Herausforderung: Es genügt nicht, Menschen mit einem bezahlten Engagement „abzuspeisen“. Dies ist für die Menschen nicht gut, weil sie eigentlich eine Erwerbsarbeit suchen. Und es schadet auch dem Engagement, weil es missbraucht wird, um andere gesellschaftliche Probleme zu lösen. Die Praxis einer Bezahlung entspricht nicht der Logik eines freiwilligen Engagements und untergräbt letztendlich dessen Kern einer freiwilligen Tätigkeit, mit der sich Bürgerinnen und Bürger in gesellschaftliche Belange einmischen.
Welche Entwicklungen in der Gesellschaft haben den Trend zur Monetarisierung begünstigt?
In manchen Bereichen spielen Gesetze eine Rolle, die in Anknüpfung an gesellschaftliche Bedarfe geschaffen worden sind, dann aber Wirkungen erzielt haben, die nicht intendiert waren: So wurde mit dem Pflege-Weiterentwicklungsgesetz (2008) beschlossen, dass zusätzliche Gelder in den Ausbau des ehrenamtlichen Engagements im Bereich der Pflege fließen sollen, um beispielsweise Qualifizierungsangebote für Engagierte zu schaffen oder Strukturen einer Anerkennungskultur aufzubauen. Es war nicht vorgesehen, dass die Gelder unmittelbar an freiwillig Engagierte fließen, was im Gesetz jedoch nicht klar formuliert wurde. Diese Lücke haben sich Organisationen zunutze gemacht und Modelle des bezahlten Engagements eingeführt.
Ist durch die Hintertür ein neuer Niedriglohnsektor entstanden?
Ja, und ich fürchte, dass diese Entwicklung durch die Einführung des Mindestlohns noch verschärft wird: Für jede beruflich und nebenberuflich erbrachte Tätigkeit müssen jetzt mindestens 8,50 Euro pro Stunde bezahlt werden. Bei Organisationen, die dieses Geld nicht haben oder nicht ausgeben wollen, ist die Gefahr gegeben, Tätigkeiten über die Hilfskonstruktion des „bezahlten Ehrenamts“ zu finanzieren und so den Mindestlohn zu umgehen.
Wenn es sich um ein gemeinwohlorientiertes Unternehmen handelt, widerspricht dies dann nicht dessen Selbstverständnis?
Angesichts des großen Bedarfs und immensen Problemdrucks wie zum Beispiel im Pflegebereich haben Einrichtungen und Organisationen pragmatische Modelle wie „bezahlte Ehrenämter“ entwickelt, um zusätzliches Personal zu gewinnen. Aus Organisationssicht ist es manchmal leichter, einen Engagierten mit fünf oder sechs Euro zu entlohnen als eine Engagementkultur systematisch zu entwickeln, die den Anforderungen an eine moderne Engagementförderung im eigenen Haus entspricht. Dazu würde eine entfaltete Anerkennungskultur, eine Qualifizierung und Begleitung von Engagierten gehören, und es müsste auch die Arbeitsteilung zwischen „Ehrenamtlichen“ und „Hauptamtlichen“ geklärt werden. Dies ist eine aufwendige, meiner Meinung nach aber unverzichtbare Anforderung an Einrichtungen, Vereine und Verbände im gemeinnützigen Sektor. Denn gemeinwohlorientierte Organisationen sind nicht nur Dienstleistungsanbieter. Thomas Olk, Sozialwissenschaftler an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, hat den Begriff von „Gemeinwohlagenturen“ geprägt, die neben ihrer Dienstleistungsfunktion auch den Auftrag haben, freiwilliges Engagement zum Wohle der Gesellschaft zu generieren. Das bedeutet, dass für gemeinwohlorientierte Organisationen auch eine wichtige Aufgabe darin besteht, das ehrenamtliche Engagement anzuregen, zu fördern und weiterzuentwickeln.
Haben manche der Wohlfahrtsverbände dieses Ziel aus den Augen verloren?
Nach wie vor binden wohlfahrtsverbandliche Organisationen und Einrichtungen einen großen Teil des Engagements. In vielen Organisationen hat es in den letzten Jahren Aufbrüche gegeben, um neue Engagement fördernde Strukturen aufzubauen. Aufgrund gesellschaftlicher Veränderungen und eines zu beobachtenden Strukturwandels im Engagement selbst ist es aber für manche Organisationen und Einrichtungen schwerer geworden, Mitglieder und ehrenamtlich Engagierte zu gewinnen. Zugleich hat die Orientierung an betriebswirtschaftlichen Logiken in den vergangenen Jahren zugenommen.
Ab wann ist der Punkt erreicht, an dem der Sinn des freiwilligen Engagements sich in sein Gegenteil verkehrt und durch Geldzuwendungen korrumpiert wird?
Das ist der Fall, wenn Stundensätze für ein Engagement gezahlt werden. Unabhängig von der Höhe des Stundensatzes ist dies eine heikle Angelegenheit – wegen der nicht klaren Abgrenzung zur Erwerbsarbeit. Außerdem verkehrt es den Sinn des freiwilligen Engagements, wenn die Auslagenentschädigung deutlich über dem liegt, was dem Engagierten an Aufwand entstanden ist.
Bei all den Risiken und Nebenwirkungen: Wäre es ratsam, dass Kirche und Diakonie mit Blick auf die Engagierten ganz auf Entgelte verzichten, die über die reine Auslagenerstattung hinausgehen?
Auf die stundenweise Bezahlung in jedem Fall, weil da die Logik der Erwerbsarbeit eingeführt wird. Auch Auslagenerstattungen, die deutlich über den tatsächlich entstandenen Auslagen liegen, sollten nicht unter dem Label „Ehrenamt“ oder „ehrenamtliches Engagement“ laufen. Jede gemeinwohlorientierte Organisation – ob Kirchengemeinde, Verein oder soziale Einrichtung – steht vor der Anforderung, zu definieren, welche Tätigkeiten in Zukunft als freiwilliges Engagement ausgeübt werden sollten und welche von 5beruflichen Kräften erledigt werden müssen. Sollte eine Arbeit nur geleistet werden können, wenn dafür Entgelte bezahlt werden, müssen Modelle beruflicher oder nebenberuflicher Arbeit entwickelt werden, die auch arbeitsrechtlich und sozialversicherungsrechtlich abgesichert sind.
„Engagementförderung gibt es nicht umsonst, und eine professionelle Engagement- und Freiwilligenkoordinierung erfordert personelle und finanzielle Ressourcen. Statt direkter Zahlungen an freiwillig Engagierte sollten die Rahmenbedingungen und Infrastrukturen gefördert werden, die Engagement ermöglichen.“
Welche Anreize sollten Organisationen statt Entgelten bieten, um ehrenamtliches Engagement zu fördern?
Engagementförderung gibt es nicht umsonst, und eine professionelle Engagement- und Freiwilligenkoordinierung erfordert personelle und finanzielle Ressourcen. Statt direkter Zahlungen an freiwillig Engagierte sollten die Rahmenbedingungen und Infrastrukturen gefördert werden, die Engagement ermöglichen. Es sollten Strukturen aufgebaut werden, die eine Koordinierung, Qualifizierung und gute Begleitung der Engagierten und eine differenzierte Anerkennungskultur ermöglichen.
Interview: Thomas Becker
Zur Person:
Gisela Jakob ist Professorin für Theorien der Sozialen Arbeit an der Hochschule Darmstadt. Sie ist Mitglied im Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement, im Stiftungsrat der Stiftung Aktive Bürgerschaft und in der Jury des „Deutschen Engagementpreises“.
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